Der Wiener Gemeindebau während der NS-Zeit

2025 jährt sich das Ende des 2. Weltkrieges zum 80. Mal. Aus diesem Anlass legt Wiener Wohnen die Ergebnisse einer großangelegten Studie vor, die die Geschichte des Gemeindebaus und seiner Bewohner*innen in der NS-Zeit wissenschaftlich aufarbeitet. Forschungsergebnisse werden durch zahlreiche Projekte einer breiten Öffentlichkeit vermittelt – jetzt starten die Stadtführungen.
DÖW-Studie beleuchtet Geschichte vertriebener und verfolgter Mieter*innen
Die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus den Gemeindebauten war Kern der nationalsozialistischen „Wohnungspolitik“. Am 14.6.1938 erteilte der nationalsozialistische Vizebürgermeister Thomas Kozich den Auftrag, alle jüdischen Mieter*innen aus Gemeindebauten zu delogieren. Als einheitliches Kündigungsdatum wurde der 31.7.1938 festgesetzt, das galt auch für Lokale und Arztpraxen. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) hat nun die Schicksale jener jüdischen und widerständigen Mieter*innen erforscht, die das NS-Regime aus ihren Gemeindewohnungen vertrieben hat bzw. die politisch verfolgt wurden.
Auch die Geschichte des Wohnungsamts (MA 21) und dessen Mitarbeiter*innen wurde untersucht. Die Forschungsergebnisse liegen seit Ende Februar 2025 vor. Ende 2025 wird im Böhlau-Verlag ein Sammelband vorgelegt, der Menschenschicksale beleuchtet und sie in den Kontext von Widerstand und Verfolgung vor und nach 1938 einbettet. Wiener Wohnen hat zudem unter nievergessen.wienerwohnen.at eine eigene Website zum Projekt veröffentlicht, auf der u.a. viele Biografien Vertriebener und alle Daten zum begleitenden Vermittlungsprogramm zu finden sind.
„Unsere Stadt – wie das ganze Land – wurde vor 80 Jahren von der NS-Diktatur befreit. Nicht zuletzt dieser Freiheit, in der wir heute leben, schulden wir einen verantwortungsvollen Umgang mit der Geschichte. Dass Wiener Wohnen gemeinsam mit Forscher*innen des DÖW diese dunkle Zeit ausleuchtet, ist ein starkes Zeichen gegen Vergessen und Gleichgültigkeit. Zahlreiche Vermittlungsprojekte und Angebote sind eine Einladung, dieser Geschichte Wiens, der Gemeindebauten und seiner Bewohner*innen nahezukommen“, betont Vizebürgermeisterin und Wohnbaustadträtin Katrin Gaál.
„Mit Beschluss vom 14. Juni 1938 wurden tausende jüdische Mieterinnen und Mieter systematisch aus ihren Gemeindewohnungen vertrieben. Hinter jedem Akteneintrag steht ein menschliches Schicksal. Es ist unsere Verantwortung, diese Geschichten sichtbar zu machen und die Erinnerung wachzuhalten“, erklärt Karin Ramser, Direktorin von Wiener Wohnen, die Motivation zur Studie.
„Der ‚Anschluss‘ Österreichs 1938 hatte auf das Leben im Gemeindebau massive Auswirkungen. Jüdische Mieter:innen wurden delogiert, jüdische Geschäfte, Lokale und Arztpraxen ‚arisiert‘, Hausmeister:innen verloren ihre Stelle. Statt ihnen zogen Parteileute, Sympathisant:innen des Regimes, Hitler-Jugend und andere nationalsozialistische Institutionen ein“, sagt Projektleiterin Claudia Kuretsidis-Haider vom DÖW. „Um einen möglichst umfassenden Blick zu gewährleisten, betrachten wir in unserer Studie die Gemeindebauten im Nationalsozialismus aus unterschiedlichen Perspektiven: Wir analysieren das Vorgehen des Wiener Wohnungsamts, bemessen die Zahl an Betroffenen und schildern ausgewählte persönliche Schicksale.“

Wesentliche Erkenntnisse der Studie
Die städtische Wohnhäuserverwaltung (MA 21) war Ende 1938 für 71.430 Wohnungen (davon 59.859 nach 1918 errichtete Neubauten) und 4.110 Geschäftslokale verantwortlich. Die MA 21 war Vollstreckerin der die jüdische Bevölkerung betreffenden Kündigungen, Delogierungen und Zwangsräumungen. Ziel war es, Wohnraum für die „arische“ Bevölkerung zu schaffen und eine „Neugestaltung“ der Stadt in Angriff zu nehmen. Die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus den Gemeindebauten war Kern der nationalsozialistischen „Wohnungspolitik“.
Auf Grundlage der erhaltenen Quellen konnten 3.598 in Gemeindebauten wohnende Jüdinnen und Juden eruiert werden. 1.090 von ihnen wurden im Zuge der Shoah ermordet. 2.508 überlebten entweder die Haft in den Lagern, versteckt im Untergrund als sogenannte „U-Boote“ oder es gelang ihnen die Flucht ins Ausland.
Das Deutsche Reich ließ nach der Annexion Österreichs das Mietrecht zunächst unberührt. Für Gemeindewohnungen gab es nach dem Mieterschutzgesetz von 1922 keinen Kündigungsschutz. Es war den Nationalsozialisten daher ohne große rechtliche Änderungen möglich, Jüdinnen und Juden ohne Begründung unter Einhaltung einer Frist von 14 Tagen die Wohnungskündigung auszusprechen. Einwendungen dagegen wurden von den dafür zuständigen Bezirksgerichten fast ausnahmslos zurückgewiesen.
In der Studie konnten zudem 401 Mieter*innen von Gemeindewohnungen eruiert werden, die aufgrund ihres widerständigen Verhaltens von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. 175 von ihnen wurden getötet, 226 Personen haben die Repressionen der nationalsozialistischen Polizei und Justiz bzw. die Haft in Gefängnissen und Konzentrationslagern überlebt.
Das Personal im Wiener Wohnungsamt wies eine hohe Kontinuität in der Übergangszeit vom Austrofaschismus zum Nationalsozialismus auf. Nur wenige wurden nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland 1938 aufgrund ihrer politischen Gesinnung oder „rassischen Zugehörigkeit“ auf der Grundlage der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums entlassen oder versetzt.
Erinnerungskultur durch Vermittlungsprojekte
Neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung setzt Wiener Wohnen auf eine breite Vermittlung der Erkenntnisse:
Geführte Rundgänge „Niemals vergessen“: Ab 3. April 2025 werden in zehn Wiener Bezirken Rundgänge zur Geschichte der Gemeindebauten in der NS-Zeit angeboten. Die insgesamt 50 Termine werden von der Kulturpublizistin Evelyn Steinthaler konzipiert und geleitet. Die Rundgänge finden statt im: 1., 2., 5., 8. und 7., 10., 11., 16., 19., 20., und 22. Bezirk, alle Infos unter: https://nievergessen.wienerwohnen.at/stadtfuehrungen
Workshops für Schulklassen: Speziell für Schüler*innen der 4. Klasse Mittelschule und der 7. Klasse Gymnasium werden Workshops angeboten, die sich mit den Schicksalen vertriebener Jugendlicher aus Gemeindebauten beschäftigen.
Community Museum „Auch das waren wir“: Eine partizipative Ausstellung, die in mehreren Gemeindebauten gezeigt wird, soll die wissenschaftlichen Erkenntnisse greifbar machen. Bewohner*innen sind aktiv in die Gestaltung eingebunden.
Themenabend im Rabenhof-Theater: Am 25. September 2025 wird eine Gala unter der Regie von Isabella Gregor veranstaltet, in der Künstler*innen die Forschungsergebnisse künstlerisch aufbereiten.
60 exemplarische Lebensläufe von verfolgten Gemeindebau-Mieter*innen und viele weitere Informationen zum Forschungsprojekt und den Vermittlungsangeboten finden sich auf: nievergessen.wienerwohnen.at